„Wer genau hinschaut, erkennt den Einfluss der Kunst auf erfolgreiches Management“

Kunst und Wirtschaft. Zwei Welten, die auf den ersten Blick so unterschiedlich erscheinen, sind sich doch auch ähnlich. Was Unternehmer und Manager von der Kunst lernen und wie sie sich von ihren inspirieren lassen können – darüber spricht in diesem Interview Professor Dr. Stephan Frucht, Mitglied des Beirats der Unternehmensberatung Brook Valley.

Professor Frucht, Sie verbinden seit vielen Jahren die Welten Wirtschaft mit Kunst und Kultur. Was können Unternehmer aus Ihrer Sicht von Künstlern lernen?

Stephan Frucht: Spitzen-Künstler wie Spitzen-Unternehmer weisen in ihren Charaktereigenschaften enorme Parallelen auf. Beide zeichnen sich durch einen großen Pragmatismus, ein hohes Durchhaltevermögen und große Offenheit für Neues aus. Und beide sind genauso kreativ wie risikofreudig. Nicht umsonst interessieren sich sehr viele Unternehmer für Künstler, Kunst und Kultur. Und in erfolgreichen Künstlern findet sich sehr häufig ein unternehmerisches Element, denn sie wissen sich und ihre Werke zu vermarkten. Lernen können Künstler wie Unternehmer bei aller Ähnlichkeit in den Eigenschaften vor allem die unterschiedlichen Techniken, Strukturen und Prozesse der jeweils anderen Welt.

Geben Sie ein Beispiel dafür? 

Stephan Frucht: Herbert von Karajan ist ein solche Beispiel. Der langjährige Chef der Berliner Philharmoniker, hat so exzellente Management-Fähigkeiten, dass er jedes mittelständische Unternehmen hätte führen können. Die Berliner Philharmoniker haben ihm enorm viel zu verdanken, auch finanziell. Umgekehrt gibt es Spitzenmanager, die einen intensiveren Zugang zu den Künsten haben als so mancher Intendant: Michael Otto, Arend Oetker, Werner Bahlsen, Werner Müller, Ernst v. Siemnes oder Mattias Doepfener – um nur einige zu nennen. Sie alle eint, dass sie stets von der anderen Seite gelernt haben und diese gleichzeitig gelehrt haben.

Und was ist das genau? Was kann man gegenseitig lernen und lehren?

Stephan Frucht: Nehmen Sie ein Dauerthema der Wirtschaft: Führung. Vielen Führungskräften und Managern ist gar nicht bewusst, dass Führung ein Prinzip ist, dass auch in der Kunst zur Anwendung kommt. Denken Sie zum Beispiel an ein Orchester mit seinen vielen einzelnen Akteuren – und einem Dirigenten, der das alles zu einem großen Ganzen zusammenfügen muss. Eine Führungskraft, die einmal erlebt hat, wie ein Dirigent arbeitet, kann daraus ganz praktisch eigene Führungstechniken ableiten – wenn er oder sie ganz genau hinschaut.

Was genau ist aus der Welt eines Dirigenten hin zu einer Führungskraft in der Wirtschaft übertragbar?

Stephan Frucht: Zuhören. Eine ganz wichtige Kompetenz – die anscheinend nach wie vor viel zu wenig praktiziert wird. Der Dirigent muss dabei drei Ebenen beherrschen. Zum einen muss er hören, ob in der Musik etwas nicht stimmt. Das ist noch recht einfach – und lässt sich in der Wirtschaftswelt vielleicht mit einem Fehler gleichsetzen, der zutage tritt. Danach muss er hören, woher dieser Fehler vielleicht kommt. Und schließlich muss er herausfinden, warum es zu diesem Fehler kommt. Wer spielt zu langsam? Wer zu tief? Und die letztendliche Frage: Was führt dazu? Häufig resultiert das Problem in der Wirtschaft nämlich nicht aus einem singulären Unvermögen heraus, also aufgrund fehlender Fachkompetenz. Sondern es stimmt etwas nicht in der Team-Dynamik. Dann muss der Dirigent nicht nur Signale aufnehmen, sondern auch die richtigen senden.

Ist der Dirigent also ein besserer Controller?

Stephan Frucht: Nicht wirklich. Es geht ja in der Musik nicht allein um richtig oder falsch. Es geht darum, etwas Besonderes zu kreieren. Es reicht nicht, wenn am Ende alles technisch stimmt, dann ist es immer noch keine Musik. Die eigentliche Arbeit beginnt erst, wenn man über das Technische erhaben ist. Es macht dann genau den Unterschied, ob ein Dirigent oder Manager noch das Unbescheibbare aus dem Team rausholen kann oder nur Benchmarks erreicht. Das Besondere gelingt meist nur den Besten der Besten. Ebenso wie Steve Jobs mit dem iPhone nicht nur ein Telefon kreiert hat, so ist die 7. Beethoven mit Carlos Kleiber nicht einfach nur eine Beethoven-Symphonie, sondern eine Offenbarung.

Zurück zu dem Punkt der Erkenntnis eines Problems: ist es gefunden, ist es aber nicht unbedingt gelöst. Können auch hier Künstler Inspiration bieten?

Stephan Frucht: Selbstverständlich – in ganz vielfältiger Weise. Aber lassen Sie uns noch einmal beim Dirigenten bleiben. Als Dirigent gebe ich heute immer wieder Workshops, in denen ich Führungskräften einen Einblick in die Dirigenten-Tätigkeit verschaffe. Dort behandeln wir auch genau Ihre Frage: Wie reagieren wir auf ein  Problem, wenn wir es identifiziert haben? Prinzipiell gibt es mindestens drei verschiedene  Führungsstilen, mit denen man agieren kann. Vorgabe-orientiert: Sie geben eine Direktive vor, wie: „Spielen Sie schneller.“ Ziel-orientiert: Sie definieren ein Ziel, wie: „Es muss mehr nach Staccato klingen.“ Innovations-orientiert. Sie benennen das Problem und geben freie Hand zur Lösung. Spannend für den Dirigenten: Was auch immer er getan hat, er bekommt das Ergebnis gleich beim nächsten Spiel präsentiert. Dieser unmittelbare Durchgriff auf ein Ergebnis kann Unternehmer und Manager ganz schön schockieren. Denn in der komplexen Welt der Wirtschaft dauert es oft deutlich länger, bis eine Veränderung an der einen Stelle wiederum an der anderen ankommt. Wichtig ist die Erkenntnis: Es passiert etwas. Und es liegt an mir. Das bringt so Manchen zum Nachdenken.

Diese unmittelbare Wirkung gibt es in der Wirtschaft deutlich seltener. Was bedarf es, um den richtigen Führungsstil auch ohne diese direkte Rückmeldung zu finden?

Stephan Frucht: Den richtigen Führungsstil im Sinne einer universellen Regel gibt es nicht – auch das gilt wieder für beide Welten. Aber es gibt den richtigen Führungsstil zur richtigen Zeit im richtigen Kontext. Mal ist der beschränkende, mal der öffnende Führungsstil und mal sogar eine Kombination aus beidem der richtige. Es kommt darauf an. Um das zu erkennen, brauchen Führungskräfte eine Menge Fähigkeit zur Selbst-Reflexion. Auch das kann ihnen die Kunst bieten – nicht nur das Orchester, sondern auch viele andere künstlerische Bereiche: einen Schritt zurücktreten, Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Dafür steht Kunst und das kann sie Menschen geben. Übrigens nicht nur Menschen aus der Wirtschaft, sondern allen Menschen. Darum ist Kunst auch immer wieder die Quelle für Innovation.

Kunst als Inspiration für wirtschaftliche Innovation. Haben Sie dazu ein Beispiel für uns?

Stephan Frucht: Ich gebe Ihnen gleich zwei. Sie kennen aus der Malerei den Pointilismus, der zwischen 1889 und 1910 seine Blütezeit erlebt hat. Die Idee von Künstlern wie Georges Seurat: Mit vielen kleinen Punkten ein vollständiges Bild erschaffen. Das Prinzip der additiven Farbmischung war eine Inspiration für den Röhren-Farbfernseher und schließlich auch die moderne Bildgebung, die Pixel für Pixel ein Gesamt-Bild liefert. Und auch die CD wäre ohne die Kunst undenkbar gewesen. Sie enthält deshalb exakt 74 Minuten, weil der damalige Vize-Chef von Sony Norio Ohga sich gewünscht hat, dass Beethovens 9. Symphonie in einer Version von Wilhelm Furtwängler vollständig darauf passt. Furtwängler hasste die technisch bedingte Unterbrechung bei Aufnahmen. Abseits von solch großen Beispielen nutzen Unternehmer und Führungskräfte immer wieder die Kunst, um sich im Kleinen wie im Großen inspirieren zu lassen. Und einige von ihnen haben die Künste sogar als ein zentrales Anliegen definiert. Dahinter steckt oft die gleiche Kausalzusammenhang, wie ich ihn oben am Beispiel der Dirigenten erwähnt habe: Im ersten Moment ist der Effekt in den Bilanzen nicht unmittelbar sichtbar. Wer aber genauer hinschaut, wird erkennen, welchen Beitrag Kunst für erfolgreiches Management leisten kann.

 

Prof. Dr. Stephan Frucht ist Mitglied des Beirats der Unternehmensberatung Brook Valley. Als gelernter Musiker und Dirigent hat er zahlreiche Einspielungen mit namhaften Orchestern unternommen. Seit 2015 ist er Artistic Director des Siemens Arts Programs. Zuvor hat er als Geschäftsführer im Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) den Kulturkreis und die Kulturstiftung der deutschen Wirtschaft geführt. Er ist Honorarprofessor an der Hochschule für Musik Karlsruhe und gibt regelmäßig Lehrveranstaltungen an der European School of Management and Technology (ESMT) sowie an der Harvard Kennedy School. Darüber hinaus ist er Mitglied im Kuratorium der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker, bei den Freunden der Bayreuther Festspiele, der Berliner Staatsoper und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.