Händler und Konsumgüterhersteller müssen sich auf neue Kernkompetenzen fokussieren.
Während Markenartikler zuletzt immer mehr eigene Vertriebskanäle aufgebaut haben, haben Händler mit Eigenmarken immer robustere Lieferketten entwickelt – und sich damit in ihren Geschäftsmodellen angeglichen. Heute führen digitale Vertriebswege, moderne Logistik und der Aufbau neuer digitaler Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle zu einer weiter steigenden Komplexität für beide Branchen. Prof. Dr. Helmut Merkel, Beiratsvorsitzender der Unternehmensberatung Brook Valley und ehemaliger CEO von Karstadt und internationaler Geschäftsführer bei Deichmann, Hong Kong und Baden-Baden, und Felix Finger, Gründer und Geschäftsführender Partner von Brook Valley, Düsseldorf, raten: Statt immer weiter Kompetenzen aufzubauen, müssen sie sich vor allem stärker fokussieren.
Die Coronakrise schüttelt Handel und Konsumgüterhersteller ordentlich durch. Wo stehen die Branchen heute?
Prof. Helmut Merkel: Die aktuelle Situation lässt relativ deutlich Gewinner und Verlierer erkennen. Gewinner sind vor allem diejenigen, die starke Marken aufgebaut haben – entweder als Produzent oder als Händler. Zu diesem Markenaufbau gehört für den Produzenten, vor allem eigene stationäre und digitale Vertriebskanäle hin zum Endkunden entwickelt zu haben. Und für den Händler bedeutet dies, eine optimale Lieferkette aufgestellt zu haben, die Eigenmarken zuverlässig und in hoher Qualität verfügbar macht. Das war für alle eine große Herausforderung, da sowohl Hersteller als auch Händler jeweils dazu übergegangen sind, das Geschäftsmodell des jeweils anderen in die eigene Wertschöpfungskette zu integrieren.
Felix Finger: Das hat die Komplexität für diese Unternehmen um ein Vielfaches erhöht. Und einige sind noch weiter gegangen: Sie haben bereits in der Vergangenheit direkte Vertriebskanäle mit zusätzlichen digitalen Services kombiniert. Da wird zum Beispiel nicht nur das Küchengerät vertrieben, sondern noch das Rezepte-Abo mitverkauft. Wer so vorgegangen ist, der steht jetzt in der Krise noch vergleichsweise gut dar. Wer all das nicht gemacht hat, dem droht eine gleichzeitige Liquiditäts-, Transformations- und damit Komplexitätskrise.
Prof. Helmut Merkel: Es steht schon jetzt fest. Das wird viele überfordern, nicht alle werden es darum durch die Krise und die Nachkrisenzeit schaffen. Erste Opfer sind in der Öffentlichkeit bereits bekannt – das sind häufig Unternehmen, auf deren Strukturkrise Corona jetzt wie ein Brandbeschleuniger gewirkt hat. Diejenigen, die es schaffen wollen, müssen ihre Defizite jetzt unmittelbar und entschlossen angehen.
Felix Finger: Was künftig wichtig wird: individuelle Kundenbedürfnisse, deutlich schnellere Verfügbarkeit – zum Beispiel Same-Day-Delivery und eine Neu-Definition von digitalen Services rund um die verkauften Produkte. Wer da nicht liefern kann, wird vom Markt verschwinden.
Was bedeutet das konkret?
Prof. Helmut Merkel: In Hong Kong genauso wie in China können Sie im Lebensmitteleinzelhandel zwischen acht Uhr morgens und 22 Uhr abends einkaufen und Ihren Einkauf ohne Mehrkosten direkt nach Hause liefern lassen. Ein Beispiel: Alibaba hat mit Sun Art Retailing jetzt 72 Prozent einer Hypermarktkette von der Auchan Holding erworben, die in China 484 Filialen besitzt. Bestellt werden kann online oder vor Ort in der Filiale. Die Lieferung erfolgt entweder als Premium Service innerhalb einer Stunde oder im Standardservice innerhalb eines halben Tages. Die Zahlung erfolgt digital über das Smartphone. Ein anderes Beispiel: Jede noch so kleine Apotheke in der Nachbarschaft hat mittlerweile einen ‚Home Delivery Service‘. Das bedeutet auf der einen Seite eine deutlich höhere Kundennähe, auf der anderen Seite den Aufbau einer effizienten und zügigen Logistik, die sie aber nichts selbst betreiben müssen. Viele große Onlineplattformen bieten kleinen Nachbarschaftshändlern an, ihre Services mit zu nutzen – von der Kundenanalyse, über die bargeldlose Zahlung bis hin zur Premiumbelieferung.
Deutsche Unternehmen haben sich schon bisher sehr schwergetan. Wie soll das denn in der Breite in Deutschland heute gelingen – zumal die Corona Krise den Unternehmen massiv zusetzt?
Felix Finger: Ganz klar – einige werden es nicht schaffen. Vielleicht werden sie dank eines günstigen Zinsumfelds und staatlicher Unterstützung Zeit gewinnen. Sie müssen sich aber den Herausforderung stellen, wenn sie langfristig nicht vom Markt verschwinden wollen. Und das bedeutet mit einer enorm gestiegenen Komplexität umzugehen. Ich rate dazu: die Unternehmen müssen ihre Kernkompetenzen neu bestimmen und sich genau auf diese fokussieren.
‚Neu fokussieren‘ – das ist irgendwie typische Beratersprache. Aber was genau soll das denn heißen? Und wie soll das zu bewerkstelligen sein?
Felix Finger: Sie müssen sich die Fragen stellen: Welche Wertschöpfungsstufen hat mein Unternehmen heute und wie möchte ich diese entwickeln? Wie sieht mein Geschäftsmodell in 5 Jahren aus? Technologien können helfen, Wertschöpfungsstufen zu digitalisieren und aus neuen digitalen Produkten Wertschöpfung und Marge zu generieren, die gerade in Zeiten massiver Überbestände und gleichförmiger Produkte im Markt nicht nur aus dem An- und Verkauf von Ware resultieren. Diesen Weg starten bereits die großen Online-Händler und transformieren sich erneut.
Prof. Helmut Merkel: Diese strategischen Fragen sind absolut relevant. Wenn es dann in die Operative geht, steht eins sofort fest: nur mittels skalierbaren Organisationsformen sowie digitaler Technologien lassen sich die neuen Ziele erreichen. Und das ist gerade für viele Mittelständler nach wie vor herausfordernd. Mittelständler in der Fertigungsindustrie machen es seit fast zwanzig Jahren vor, wie „Spezialisierung“ funktioniert und zum Beispiel Zulieferernetzwerke der Automobilindustrie bis zu 85 Prozent der Fertigungstiefe übernehmen. Nur mit Spezialisten kann Innovation beschleunigt werden. Nicht umsonst ist Deutschland nach einem aktuellen Bloomberg-Ranking die innovativste Volkswirtschaft der Welt.
Felix Finger: Für viele Unternehmen im Handel und der Konsumgüter-Industrie ist es schwierig, innovative digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln. Sie verfügen meist über eine IT-Abteilung, mit Fokus auf interne Warenwirtschaft- und Supply-Chain-Applikationen. Nur wenige, heute angebotene digitale Lösungen schaffen einen echten Mehrwert für den Kunden und können agil ausgerichtet werden. Ein Handelsunternehmen muss sich bei der Gestaltung des digitalen Aufbruchs auf seine Kernkompetenz besinnen: Marktzugang und Kundennähe. Hier müssen zukünftig auch die Investitionen einfließen.
Aber wie soll dieser ‚digitale‘ Aufbruch auch gelingen? Digital-Experten sind sehr rar am Markt, die großen Unternehmen kaufen sie geradezu weg. Welche Chance haben da kleinere und mittlere Unternehmen?
Felix Finger: Das stimmt natürlich, der Wettbewerb um die digitalen Talente ist hart. Viele Mittelständler können ihn nicht nur aus Attraktivitätsgründen nicht mitgehen – ihnen fehlen auch oft die finanziellen Mittel. Oder sie nehmen die Herausforderung erst gar nicht an. Da sagt dann der Finanzchef: „Wir geben doch schon so viel Geld für unsere IT-Abteilung aus, da sollen die das Thema doch lösen.“
Prof. Helmut Merkel: Das ist eben eine organisatorische Achillesverse. Unternehmen sollten sich fragen: Was ist meine zukünftige Kernkompetenz und was leistet eigentlich meine IT? Was sollte sie leisten? Und sie werden oft zu der Antwort kommen, dass die IT vor allem mit der Wartung alter Anwendungssoftware beschäftigt ist. Da ist schon die Frage zu stellen, ob man mit einer so ausgerichteten IT den Anschluss an die Zukunft schaffen kann. Besser die Unternehmen prüfen jetzt, ob das noch passt.
Felix Finger: Viele der ‚Outputs‘ der von Ihnen skizzierten IT brauchen sowohl Händler als auch Mittelständler natürlich schon. Wir als Beratungsunternehmen überprüfen aber immer wieder, ob man dazu auch die IT in der jetzigen Form benötigt. Oder ob nicht eine Form von externer Lösung besser wäre, vor allem um skalierbare Services und State-of-the-Art-IT zu erhalten. Gleichzeitig kommen bei einer wie von Professor Merkel vorgeschlagenen Überprüfung auch neue benötigte Leistungen heraus, die bisher nicht geleistet werden konnten – und wo die Unternehmen jetzt dringend überprüfen müssen, wie sie diese ins eigene Unternehmen hineinbekommen.
Sie sprechen bei externen Lösungen das Thema ‚Outsourcing‘ an – das ist nicht besonders neu. Aber die Vergangenheit zeigt auch: Das ist oft nicht die Lösung der Probleme, das schafft erst die Probleme, was Qualität, Verfügbarkeit und weitere Faktoren angeht.
Felix Finger: Das stimmt natürlich. Schlechtes Outsourcing löst kein einziges Problem. Aber das ist es auch nicht, was ich grundsätzlich empfehlen würde. Es kann eine Option sein, die man stets prüfen sollte. Aber es gibt heute noch viele andere Möglichkeiten: Near- und Offshoring zum Beispiel ist das direkte Einbinden externer Teams, die im Ausland stationiert sind. Gerade bei Themen wie IT-Entwicklung und -Implementierung sitzen in Regionen wie dem Baltikum, Polen aber auch vielen Teilen Asiens exzellente technische Spezialisten, die Englisch sprechen. Auch das Zusammentun mit anderen, zum Beispiel in Form von Joint Ventures, kann helfen, einfachere Tätigkeit auszulagern. Es ist im Individualfall zu prüfen, welche Optionen strategisch, finanziell, operativ und schlussendlich auch kulturell Sinn machen.
Prof. Helmut Merkel: Je agiler die Kunden, desto agiler müssen auch die Unternehmen werden. Alte Organisationsstrukturen halten da nicht mehr Stand. Hier in Asien ist es ebenfalls vollkommen normal, mit einer Vielzahl an externen und internen Lösungen zu experimentieren, um genau das Know-how und die Leistungen zu bekommen, die gerade jetzt benötigt werden. Ich weiß, dass deutsche Unternehmen besonders stolz auf ihre Stabilität sind. Aber Stabilität ist ein Wert, der auch zu einem Risiko werden kann, wenn die Umwelt beschleunigt durch Covid-19 fluid geworden ist.