Wie Händler jetzt Liquidität generieren können: ‚Ship from Store‘ in sechs praktischen Schritten – und was dabei häufig schief geht
Nicht erst seit der Corona-Pandemie ist insbesondere der Mode-Einzelhandel eher dysfunktional: Die Stores werden mit mehr Ware ausgestattet, als sie abverkaufen können. Gleichzeitig sind sie in den wenigsten Fällen an die Online-Vertriebskanäle der Händler angeschlossen, die ausschließlich von Zentrallagern beliefert werden. Darum setzt sich bei fortschrittlich denkenden Händlern immer stärker das Konzept ‚Ship from Store‘ durch – also der direkte Abverkauf von stationärer Ware über Online-Kanäle. Wie Händler dieses Konzept jetzt rasch und pragmatisch umsetzen können und was für Fehler sie unbedingt vermeiden sollten, erklären Felix Finger und Andreas Lücker von der Unternehmens- und Transaktionsberatung Brook Valley.
„20 Prozent der Ware lagert häufig zentral, die anderen 80 Prozent sind über die Filialen verteilt“, sagt Felix Finger, Gründer und Geschäftsführer von Brook Valley. „Wenn diese Ware in den Online-Verkaufskanälen aber angeboten wird, steht sie bis zum Verkauf im stationären Handel als gebundenes Working Capital in der Bilanz. ‚Ship from Store‘ setzt darauf, dieses Working Capital schnell zu senken und mit einem rascheren Abverkauf über mehrere Kanäle in wenigen Tagen bis Wochen neue Liquidität für Händler zu generieren.“ Dazu müssen Händler einige Schritte gehen. „Generell kann jeder Händler, ganz unabhängig von der Größe, das Konzept umsetzen“, sagt Felix Finger.
1. Nicht zu viel Strategieren – Anfangen!
Häufigster Fehler: Zu viel strategische Diskussion, zu wenig pragmatische Handlung
Der Einsatz von Technik, neue Prozesse, bisher nicht berücksichtigte Kosten – es gibt eine Menge Fragestellungen, die viele Einzelhändler nach wie vor davon abhalten ein Ship-from-Store-Konzept umzusetzen. Felix Finger sagt: „Ein wenig mehr Hemdsärmeligkeit ist gefragt. Eigentlich eine Stärke deutscher Händler.“ Das heißt nicht, dass es nicht relevante Themen zu beachten gilt, wie auch dieser Artikel darlegt – und dass Fehler gemacht werden. „Für ‚Ship from Store‘ gibt es nicht das eine Patentrezept. Händler müssen sich ausprobieren und aus ihren Fehlern rasch lernen“, sagt Finger. „Dazu müssen sie anfangen. Die größten Investments für das Geschäftsmodell haben Händler ohnehin schon geleistet – die Filialen, das Personal, das nicht genutzte Working Capital in Form der Waren. Und zuletzt: Niemand braucht für den Start komplexe neue Software. Eine Excel-Tabelle funktioniert ebenso zu Steuerung des Prozesses.“
2. Bestände erfassen und konsolidieren
Häufigster Fehler: Puffer wird vergessen – und plötzlich ist die online bestellte Ware schon vorher offline abverkauft worden.
Um die Breite und Tiefe der Sortimente in den Filialen nutzbar zu machen, müssen diese zunächst einmal erfasst und konsolidiert werden. „Händler brauchen einen genauen Überblick darüber, wie viel Ware sie gerade an welchem Ort vorrätig haben“, sagt Andreas Lücker, Berater bei Brook Valley. Die Daten gilt es dann im Piloten händisch in einer Datei zusammenzutragen – um quasi eine Art Navigationscockpit für den späteren Versand vorzubereiten. Lücker: „Ein Fehler, der dabei häufig gemacht wird: Das gesamte Sortiment wird später auch online angeboten, sodass plötzlich On- und Offline-Kunden um die gleiche Ware im Verkaufsfall konkurrieren und eine Partei unzufrieden sein wird. Darum empfehlen wir, bei gleichzeitigem Verkauf über beide Kanäle, online über alle Filialen konsolidiert, mindestens einen Puffer einzuplanen und langfristig eine Plattform für Echtzeit-Bestände zu implementieren. Dabei bietet es sich heute an, diese zum Beispiel in Form von ‚Software as a Service‘ (SaaS) als Dienstleistung zu beziehen und nicht selbst zu entwickeln oder eine komplexe Implementierung anzustoßen.“
3. Kosten kalkulieren, Deckungsbeitrag pro Artikel bestimmen – und auf dieser Basis Plattform-Strategie festlegen
Häufigster Fehler: Das gesamte Sortiment wird gleichbehandelt – und unabhängig von der Marge auf allen Verkaufsplattformen angeboten
Die Kosten beim Ship-from-Store-Konzept erstrecken sich grob zusammengefasst auf interne Prozesskosten (das Finden und Verpacken der Ware), den Versand (Hin- und Retour) sowie mögliche Provisionen für Verkaufsplattformen wie Zalando. Je geringer der Preis, desto geringer dadurch auch die Gesamtmarge pro Lieferung, Felix Finger sagt: „Um die Provision dann zum Beispiel umgehen zu können und damit die Marge nicht komplett aufzugeben, könnten Teile des Sortiments bis zu einem spezifischen Preis oder einer Marge ausschließlich über den stationären Verkauf oder im eigenen Online-Shop vertrieben werden, da hier höhere Warenkörbe und Bons die Kosten besser tragen. Über dieser Preis- beziehungsweise Margengrenze kann aber auch das Einstellen auf provisionsbasierten Verkaufsplattformen sinnvoll sein. Denn mit der größeren Reichweite lassen sich die teureren Produkte dennoch zu einer zufriedenstellenden Marge abverkaufen. Wir empfehlen jedem Händler, diese Kennzahlen zu definieren und mit ihnen gerade am Anfang zu spielen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, welcher Verkaufsweg für welches Produkt am besten funktioniert. Fehlentscheidungen lassen sich rasch und ohne große Verluste schnell ändern.“
4. Geschwindigkeit als wichtigsten Differenzierungsfaktor begreifen – im Zweifel lieber zu schnell als zu spät stornieren
Häufigster Fehler: Artikel werden zu lange gesucht und nicht als ‚fehlt‘ gemeldet – zu späte interne Stornierung führt zu später Lieferung oder Stornierung beim Kunden
Wird eine Bestellung für ein Produkt ausgelöst, muss in einem internen Prozess einer Filiale die Erledigung des Auffindens, Verpackens und Versands verteilt werden – das lässt sich über den Koordinator des Prozesses zum Beispiel in der weiter oben erwähnten Excel-Datei einsehen. Wird der Artikel in der beauftragten Filiale nicht gefunden, ist er unmittelbar als fehlend zurückzumelden, sodass sofort die nächste Filiale beauftragt werden kann, oder eine mögliche Stornierung beim Kunden zeitnah zur Bestellung eingeht. „Nichts ist für Kunden frustrierender als etwas zu bestellen, zu warten – und dann eine Absage zu erhalten“, sagt Andreas Lücker. „Damit erleidet der Versender gleich einen Vertrauensverlust und wird künftig bei Bestellungen nicht mehr berücksichtigt. Es ist schon ärgerlich genug, wenn eine Online-Angabe mit der Realität nicht übereinstimmt. Um den Kunden gewogen zu halten, sollte er das aber zumindest so schnell wie möglich erfahren.“ Ein Fehler, den der Brook-Valley-Berater häufig bei Händlern beobachtet: Gründlichkeit geht hier vor Genauigkeit. Lücker: „Da werden große Such-Aktionen für das eine Produkt gestartet – und oft wird es nachher doch nicht gefunden. Damit sind Prozesskosten entstanden, es wurde Zeit verloren. Ich empfehle lieber schnell zu stornieren, als Kunden zu lange warten zu lassen und im Anschluss gleich die Sortimentsliste zu überarbeiten, damit ein solcher Fehler nicht nochmal passiert.“
5. Versandabläufe optimieren – nicht die Kosten aus den Augen verlieren
Häufigster Fehler: Kunde wird durch mehr Pakete als nötig beliefert, die Kosten steigen damit deutlich
Wenn der Kunde über den Online-Shop oder einen Marktplatz bestellt, kann sich eine so genannte Split-Bestellung ergeben. So kann zum Beispiel ein Kunde mit zwei Artikeln aus dem Zentrallager, einem Artikel aus der einen Filiale und einem weiteren Artikel aus der anderen Filiale beliefert werden – weil dies laut aktueller Verfügbarkeit im System ein möglicher Weg ist. „Damit habe ich natürlich alle relevanten Kosten gleich mehrfach“, sagt Felix Finger. „Die Bestellung verliert deutlich an Attraktivität. Wo im oben beschriebenen Schritt der Nicht-Auffindbarkeit Geschwindigkeit zählt, gilt es hier einen Schritt zurückzutreten und festzulegen: Welche Wege des Versands machen am meisten Sinn? Wie können die Sendungen besser zusammengefasst werden, um die Kosten zu senken?“ Möglicherweise kann mit einer Lieferung aus einer Filiale oder wenigstens zwei Lieferungen die Bestellung effizienter erfolgen. Hier gilt es mit etwas gesundem Menschenverstand, ein Regelwerk aufzubauen, und gerade zu Beginn der Umsetzung von ‚Ship from Store‘ sehr individuell auf komplexe Bestellungen zu schauen, um diese sinnvoll zu strukturieren.
6. Das Kundenerlebnis Zuhause planen – professionell verpacken
Häufigster Fehler: Ware wird, anders als bei einem Vor-Ort-Kauf, lieblos eingepackt – der Kunde empfindet die empfangene Ware als weniger wertig
„Es ist kurios, dass es einigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Filialen anscheinend nicht so leichtfällt, die Pakete für ihre Kunden so zu packen, dass sie auch ansprechend sind“, sagt Andreas Lücker. „Dabei kennen sie die Ware oft viel besser als ihre Kolleginnen und Kollegen, die in Waren- und Versandlagern arbeiten. Und sie sind es auch gewohnt für die Kunden, die stationär kaufen, Waren ansprechend zusammenzustellen und zu verpacken – vor allem in den gehobeneren Segmenten.“ Wer sich für ‚Ship from Store‘ entscheidet, sollte darum das lokale Personal ausreichend trainieren und schulen, um die Ware so zu verpacken, dass sie die Kunden Zuhause auch anspricht. Lücker sagt: „Das Einkaufserlebnis Zuhause beginnt mit der Haptik der Kartonage und der Verpackung des Produkts. Gerade wer etwas Hochwertiges geordert hat, wird ein durchgängiges Erlebnis erwarten. Diejenigen, die sich mehr Mühe bei der Verpackung geben, haben darum auch geringere Rücksendequoten.“
„Gerade weil die Herausforderungen so individuell sind, können wir hier nur einen exemplarischen Einblick in den möglichen Aufbau eines Ship-from-Store-Konzepts geben“, sagt Felix Finger. „Wenn man das Konzept zur Senkung des Working Capital weiterdenkt, wäre der nächste Schritt ein Konzept für ‚Ship from Customer‘ – in dem retournierte Ware direkt von einem Kunden zum nächsten versendet wird. Das würde nicht nur Kosten senken, sondern wäre auch ökologisch ein nächster Schritt. Bisher gibt es in diesem Feld noch keine funktionierenden Projekte – aber ich bin sicher, dass sich der Handel langfristig in diese Richtung entwickeln muss und entwickeln wird.“