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Je schwerer sich Unternehmen bei der Suche nach Talenten tun, desto häufiger versuchen sie, gleich ein ganzes Team anzuwerben. Das ist oft gut eingespielt – und teilt zudem besonders hart gegen die Konkurrenz aus. Doch diese Strategie birgt auch Tücken.
Den Gewerbeschein hatte Zohrab Istalifie schon angemeldet: Vor zwei Jahren wollte der IT-Experte aus Essen wieder eine Firma gründen. Schon einmal war ihm das gelungen: Noch als Student hatte Istalifie mit Kommilitonen die App Book my Coach entwickelt, eine Buchungsplattform für Termine bei Personal Trainern. 14 Mitarbeiter hatte das Start-up zu seinen besten Zeiten. Bei seinem neuen Arbeitgeber, der Beratungsgesellschaft Accenture, fielen Istalifie die Entscheidungen dagegen zu langsam, von den starren Hierarchien fühlte er sich immer wieder gebremst. „Ein so großes Netzwerk kann oft nicht anders agieren“, sagt Istalifie heute. Aber er war eben anderes gewohnt. Und so wollte er sich wieder selbstständig machen.
Da kam überraschend ein Anruf: Eine Personalagentur fragte, ob er Interesse hätte, zu einer kleineren Beratung zu wechseln und dort eine neue Abteilung aufzubauen. Ihm wurden viele Freiheiten zugesagt – so- wie die Chance, sein fünfköpfiges Team von Accenture mitzunehmen.
Warum nur einen nehmen, wenn man gleich einen ganzen Schwung leistungsstarker Mitarbeiter für sich gewinnen kann? Nach diesem Prinzip funktioniert das Team-Hiring, das viele Unternehmen gerade für sich entdecken: Sie werben ganze Gruppen von Kollegen ab oder sprechen wie bei Istalifie gezielt talentierte Führungskräfte an – mit der Bitte, sie mögen die klügsten Köpfe ihres Teams doch gleich mitbringen. Mitunter wechseln sogar komplette Abteilungen oder Subunternehmen den Arbeitgeber. Wie der Callcenter-Spezialist Wirecard Communication Services: Dessen Team rettete sich 2020, kurz nach der Insolvenz des Mutterkonzerns Wirecard, zum Identifikations- dienst IDnow. 120 Mitarbeiter hat das Münchner Start-up so auf einen Schlag gewonnen.
Wer ganze Gruppen anwirbt, spart nicht nur Zeit und Geld im Recruiting, sondern gewinnt auch noch ein bereits gut eingespieltes Team für sich: Die Kollegen kennen einander, wissen um die Stärken und Macken der anderen. Berater Istalifie etwa arbeitete mit einem Teil seiner Mannschaft schon seit Jahren zusammen, als er abgeworben werden sollte. „Ich wusste: Wenn wir zusammen etwas Neues starten, kann ich mich ganz auf sie verlassen.“ Zu dritt gehen die IT-Experten schließlich zu Nagarro, einer internationalen Softwarefirma. Heute leitet Istalifie dort eine Abteilung mit 20 Mitarbeitern in Deutschland und Dänemark. Nehmen abgeworbene Führungskräfte so wie er nur ihre besten Köpfe mit, die bereits länger miteinander arbeiten, ist auch die Gefahr gebannt, dass sich unter ihnen lähmende Machtkämpfe entwickeln. Stattdessen starten sie beim neuen Arbeitgeber nahezu ohne Reibungsverluste.
Mehr Fehler unter Fremden
Das belegen auch zahlreiche Studien: Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Boris Groysberg hat etwa herausgefunden, dass die Leistung von Analysten für viele Monate messbar sinkt, wenn sie allein die Firma wechseln. „Sie müssen sich schließlich erst orientieren, Kontakte knüpfen und ihren Platz im neuen Unternehmen finden – das kostet Zeit und Energie“, erläutert Thorsten Grohsjean, Managementforscher an der Universität Bocconi in Mailand, die Ergebnisse. Solch ein Leistungsabfall lässt sich vermeiden: Wechseln die Aktienexperten mit ein paar Kollegen die Stelle, konnte Groysberg keine Delle messen – schließlich fühlen sich di eAnalysten am neuen Arbeitsplatz schnell wohl.
„Wir unterschätzen viel zu oft, wie wichtig bekannte Gesichter am Arbeitsplatz sind“, betont deshalb Experte Grohsjean, „dabei entscheiden solche Beziehungen mit über unsere Leistung.“ Herzchirurgen zum Beispiel, die als Freelancer an verschiedenen Kliniken in den USA arbeiten, operieren immer dort am sichersten, wo sie einige Kollegen bereits von früheren Einsätzen kennen. Das ergab eine Untersuchung der Harvard Business School. Ist den Medizinern ihr Team dagegen völlig unbekannt, unterlaufen ihnen häufiger Fehler.
Wer Verbündete um sich weiß, agiert selbstbewusster und auch zuverlässiger. Diesen Effekt nutzen nicht nur IT-Unternehmen wie Nagarro schon lange, sondern auch Beratungen, Großkanzleien und Wirtschaftsprüfer: Regelmäßig wechseln dort ganze Teams zur Konkurrenz. Und nicht selten folgen ihnen wichtige Klienten – ein weiterer Grund, der das Abwerben von Gruppen attraktiv macht. Denn der neue Arbeitgeber gewinnt so nicht nur neue Kunden, sondern schwächt zugleich die Konkurrenz. Gegen ihren einstigen Arbeitgeber teilen frisch gewechselte Mitarbeiter sogar besonders heftig aus, hat Managementforscher Grohsjean herausgefunden: Er untersuchte das Verhalten von Eishockeyspielern aus Kanada und den USA. Innerhalb der nordamerikanischen Profiliga wechseln sie dort recht häufig die Mannschaft. Treffen sie dann auf dem Eis auf ihren früheren Verein, foulen sie den Gegner deutlich häufiger als bei Spielen gegen andere Teams.
Milde mit einstigen Kollegen
Dieses Ergebnis lasse sich durchaus auf die Wirtschaft übertragen, so Grohsjean: Auch dort bemühen sich Mitarbeiter nach einem Jobwechsel darum, die Identifikation mit dem neuen Arbeitgeber zu stärken. Gerade gegenüber ihrer früheren Firma treten sie besonders wettbewerbsorientiert auf. Allerdings entdeckte der Wissenschaftler eine wichtige Ausnahme von der Regel: Die Eishockeyspieler wurden nur gegenüber Sportlern ihrer einstigen Mannschaft aggressiv, die sie nicht kannten. Bei ehemaligen Teamkameraden zügelten sie sich deutlich. Unternehmen außerhalb der Sportwelt empfiehlt Grohsjean daher, abgeworbene Mitarbeiter besser nicht in direkter Konkurrenz zu früheren Kollegen einzusetzen – oder eben gleich ganze Teams abzuwerben, um solche Situationen zu vermeiden.
Diese Wechsel gelängen immer dann vergleichsweise leicht, wenn die Kandidaten zu Unternehmen abwandern, die dem eigenen ähneln, hat Henning Curti beobachtet, Partner beim Prüfkonzern EY: „Die internen Abläufe gleichen sich dann stark, die Mitarbeiter brauchen kaum Einarbeitungszeit, sondern können sofort loslegen: Etwas überspitzt gesagt ändert sich nur ihr Schreibtisch.“ Viel schwieriger seien Wechsel zwischen unterschiedlichen Branchen oder Unternehmenskulturen.
Einer, der das selbst schon erlebt hat, ist David Eicher, prominenter Kopf der Marketingszene. Im Jahr 2000 gründet er die Webguerillas, schnell wird seine Agentur bekannt für ihre Social-Media-Kampagnen, etwa für Käpt’n Iglo oder die Deutsche Telekom. Den angestaubten Verkehrsclub ADAC machte sie bei jungen Autofahrern etwa mit Livestreams von Events wie dem Kolbenfresser des Jahres bekannt, einem Wettbewerb im Maisessen.
Auf diesem Feld ist der Kommunikationskonzern Territory im Jahr 2016 noch dünn besetzt – und verstärkt sich deshalb mit Eichers Team. „Auf dem Papier ergänzten wir uns ideal“, erinnert sich der Werber.
„Aber tatsächlich sprang der Funke nie über: Auf der einen Seite schnelle Entscheidungen und flache Hierarchien, wie sie bei einem Mittelständler wie den Webguerillas üblich sind. Auf der anderen Seite die komplizierte, streng hierarchische Arbeitsweise eines Konzerns.“ Territory gehört zur Bertelsmann-Gruppe. In diesem Netzwerk seien er und sein Team gefühlt immer ein Fremdkörper geblieben. „Und der wird irgendwann abgestoßen – oder man setzt sich den Konzernhut auf. Nur: Der steht nicht jedem.“
Eicher benennt damit die größte Tücke für das Anwerben ganzer Gruppen: Oft genug bleibt diese Mannschaft dann eben ein Team für sich, das sich schwerer ins restliche Team einfügt als ein einzelner Mitarbeiter. Nach drei Jahren trat deshalb auch Eicher bei Territory ab – und wirbt trotzdem fürs Team-Hiring, allerdings im kleineren Stil: Crews mit fünf bis zehn Mitarbeitern lassen sich seiner Erfahrung nach deutlich leichter integrieren. Gleichzeitig rät er, den Teams dafür Zeit zu lassen – und große Freiräume. „Dann profitieren am Ende beide Seiten.“
Mittlerweile leitet Eicher eine Unternehmensberatung, Müllers Garage, die sich auf derartige Wechsel spezialisiert hat. Sie seien gerade für die Werbebranche interessant, sagt er, denn sobald eine Agentur einen neuen Etat gewinnt, muss sie ihr Know-how und das Personal extrem schnell erweitern. „Dann kann Team-Hunting eine ideale Lösung sein.“ Ebenso wie für Unternehmen, die sich im Marketing verstärken wollen.
Kulturschock im Konzern
Im Fokus vieler Konzerne stehen bei der Suche nach passenden Teams allerdings andere: Start-ups. Deren Mitarbeiter gelten als besonders innovativ und leistungsbereit. Ein Spirit, der sie besonders attraktiv für etablierte Unternehmen mache, sagt Julian von Blücher, Gründer von Talent Tree, einer Personalberatung, die auf junge Gründer und ihre Investoren spezialisiert ist. „Immer wieder erlebe ich, dass Start-ups nicht für ihre Geschäftsidee gekauft werden, sondern nur, um die dort arbeitenden Talente an sich zu binden.“ Dax-Unternehmen melden sich inzwischen immer häufiger bei ihm mit der Bitte, einen solchen Wechsel zu begleiten, erzählt der Headhunter. Doch von Blücher rät zur Vorsicht: Oft fremdeln die jungen Teams mit der Konzernwelt. „Wer von einem Start-up kommt, denkt meist unternehmerisch und will im Alltag vieles autonom entscheiden. Kommt solchen Mitarbeitern jemand mit Mikromanagement und Befehlsketten, sind viele ganz schnell wieder weg.“
Tatsächlich erweist sich die Übernahme von Start-ups mit dem alleinigen Ziel, deren Talente für sich zu gewinnen, überproportional häufig als Flop. Jedes dritte so angeworbene Teammitglied verlässt die neue Firma innerhalb des ersten Jahres, ergab eine Untersuchung der MIT Sloan School of Management. Dieser Wert liegt bei regulär eingestellten Mitarbeitern, die ähnlich qualifiziert sind, bei nur zwölf Prozent.
Die maue Erfolgsbilanz sei ein Anzeichen für den Kulturschock, den Start-ups bei Konzernen bisweilen erleben, sagt EY-Ex- perte Curti. Das Recht auf Homeoffice etwa zähle für sie zum Standard, genauso wie eine leistungsorientierte Vergütung. Um beides müssen Mitarbeiter in vielen klassisch organisierten Unternehmen aber noch kämpfen. Werben Unternehmen Teams von Start-ups ab, müssten sie deshalb kluge Absprachen finden, rät Curti, etwa indem sie die neuen Kollegen organisatorisch nicht zu eng anbinden. Diese Lösung mindert auch das Risiko, die Stammmannschaft vor den Kopf zu stoßen. „Sonst teilen sich schlimmstenfalls zwei Kollegen ein Büro, von denen einer bei glei- cher Qualifikation auch zu Hause arbeiten darf und zusätzlich mehr Geld kassiert“, so Curti. Nach einer Übergangsphase aber, so der Experte, sollten Vergütung und Arbeitsbedingungen angeglichen und das Team Teil der Belegschaft werden.
Führungskräfte sollten sich außerdem so früh wie möglich mit den einzelnen Mitgliedern der Gruppe austauschen, rät Melina Brandstetter. Die Personalberaterin ist Spezialistin für solche Abwerbeversuche, nicht nur aus der Start-up-Szene. Immer wieder stellt sie dabei fest, dass sich Mitarbeiter meist aus ganz unterschiedlichen Gründen für den gemeinsamen Weggang entscheiden. „Der eine ist vielleicht unzufrieden mit seinem bisherigen Arbeitgeber, der andere sieht bei der neuen Firma interessantere Karriereoptionen für sich. Und einige Kollegen ziehen nur mit, weil sie vor allem die Zusammenarbeit mit ihrem Vorgesetzten oder dem Team sehr schätzen.“ Die unterschiedlichen Motive gilt es genau zu erforschen, sagt die Expertin, denn so lassen sich die Neuankömmlinge auch individuell am besten integrieren. Schließlich sehen sich Teams nicht immer als verschworene Gemeinschaft: Einige Mitglieder freuen sich womöglich über einen schnellen Wechsel in eine andere Abteilung des neuen Arbeitgebers, wo sie unabhängig von den ehemaligen Kollegen glänzen können.
Zeit fürs Kennenlernen
Hilfreich seien zudem detaillierte Zeitpläne, so Brandstetter: Darin klären die Parteien zum Beispiel, wann das Team sich im neuen Unternehmen vorstellt – und wie danach die Aufgaben verteilt werden. „Dabei sollten Manager auch viel Zeit für das soziale Miteinander einplanen: für gemeinsame Workshops genauso wie für längere Kaffeepausen, damit sich die Kollegen gegenseitig kennenlernen“, rät die Personalberaterin.
Die umworbenen Talente wiederum gleiten als Gruppe schon durch die Bewerbungsphase deutlich gelassener: Zohrab Istalifie etwa führte als Kopf seines Teams die meisten Gespräche allein, als er von Accenture zu Nagarro wechselte. Hinterher habe er sich aber selbstverständlich eng mit seinen Kollegen abgestimmt, erzählt der Berater: Passt der Deal, klingt das Konzept schlüssig? „Ich bin Teamplayer und habe großes Vertrauen in das Urteil meiner Kollegen – das gab mir ein ganz anderes Selbstvertrauen für die Meetings.“ Im Idealfall kommen so Fremdheitsgefühle gar nicht erst auf. Stattdessen fühlt sich jeder einzelne wertgeschätzt – und doch stark im Team.